Solche und ähnliche Fragen werden im Chemieunterricht oft im Zusammenhang mit dem folgenden Gefahrensymbol „Hochentzündlich” auf Spraydosen gestellt:
Dabei kann ich die Neugier meiner Schüler sehr gut nachvollziehen, denn die Antwort auf diese Frage interessierte mich bereits im zarten Alter von 8 Jahren und da ich in diesem Alter schon im wahrsten Sinne des Wortes „einschlägige” Erfahrungen mit diversen Chinaböllern, Ladykrachern, Kanonenschlägen u. ä. explosiven Gegenständen gesammelt hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis dieses Experiment von mir durchgeführt werden sollte.
An einem Frühlingsnachmittag des Jahres 1973 trafen sich wie fast jeden Tag 5 bis 10 Kinder im Koblenzer Stadtteil Neuendorf um zu spielen, zu raufen und ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen.
Wenn man zu dieser Zeit nachmittags vor die Türe ging, traf man ohne jegliche Verabredung und Organisation immer auf eine große Zahl von gleichgesinnten Kindern und Jugendlichen, die um die Häuser zogen.
Das lag nicht nur an der fehlenden Unterhaltungselektronik, den beengten Wohnverhältnissen oder den vielen noch nicht zugebauten Freiflächen in der Stadt, sondern vor allem an der hohen Zahl von real existierenden Kindern und Jugendlichen. Wir waren nicht nur viele Kinder, sondern sehr viele Kinder, denn wir gehörten und gehören heute noch zu den „Babyboomern“ der 1960er Jahre. Was danach an Kindern in Deutschland geboren wurde, konnte man zahlentechnisch gegenüber den 1960er Jahrgängen vergessen und deshalb ist die deutsche Bevölkerungspyramide mittlerweile keine Pyramide mehr, sondern ein Tannenbaum. Aber das nur am Rande.
Auf jeden Fall war eine unserer Lieblingsbeschäftigungen „Feuerchen machen”. Der Umgang mit Feuer jeglicher Art gehörte für die Kinder dieser Zeit zur täglichen Routine.
So haben wir auch an diesem Nachmittag unser obligatorisches Lagerfeuer in einem nahegelegenen Wäldchen entzündet und waren ständig auf der Suche nach geeignetem Brennmaterial. Irgendwann kam jemand auf die glorreiche Idee, die nahegelegenen Mülltonnen einer Wohnsiedlung nach Brennbarem zu durchsuchen. Kurze Zeit später wurden wir dann fündig. Irgendjemand hatte eine ungefähr halbvolle Haarspraydose aus einer Mülltonne gefischt und präsentierte uns stolz den vermeintlichen Brennstoff, wobei uns völlig klar war, dass es sich hierbei um mehr, als einen gewöhnlichen Brennstoff wie Holz oder Pappe handeln würde. Aus den warnenden Erzählungen unserer Eltern wussten wir, dass Spraydosen und Feuer eine hochexplosive Kombination sind.
Soweit die graue Theorie, die allerdings den Praxistest nicht ersetzen sollte. Also wurde die Haarspraydose mit dem Warnhinweis „Achtung, gleich knallt es” ins Feuer geworfen. Während die meisten Kinder respektvoll das Weite suchten, um das spektakuläre Ereignis aus sicherer Entfernung zu beobachten, versteckte ich mich in unmittelbarer Nähe des Feuers hinter dem dicken Baumstamm eines Laubbaumes.
Meiner unendlichen Neugier auf das, was da wohl gleich passieren würde, konnte ich allerdings nicht widerstehen und so schaute ich mit meiner rechten Gesichtshälfte hinter dem Baum hervor, damit mein Logenplatz auch seinen Zweck erfüllen konnte.
Nach weniger als einer Minute gab es tatsächlich einen dumpfen Knall und ich dachte noch: „Was, das war schon alles? Wie langweilig ist das denn?” Doch dann bemerkte ich, wie sich ein Blutstrom von oben über meinen Pullover ergoss und in kürzester Zeit alles rot einfärbte und durchtränkte. Ohne auch nur den Ansatz eines Schmerzes zu spüren, lief ich blutüberströmt in Rekordzeit nach Hause, wo ich von meiner Mutter im Hausflur bereits empfangen wurde. An die folgenden Minuten habe ich keine Erinnerung mehr, da ich vermutlich durch den hohen Blutverlust mein Bewusstsein verloren hatte. Aufgewacht bin ich kurze Zeit später in der „Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie auf der Berufsgenossenschaftlichen Sonderstation für Schwerstunfallverletzte am Krankenhaus Evangelisches Stift St. Martin in Koblenz”, so der damals offizielle Name. Damals operierten an dieser Klink noch Chirurgen mit praktischen Erfahrungen in der Behandlung von Explosionsverletzungen aus dem 2. Weltkrieg und das war mein großes Glück im Unglück. Ein Metallteil der Spraydose hatte nämlich während der Explosion meine rechte Gesichtshälfte mit hoher Geschwindigkeit getroffen und vom Kinn aus in Richtung Ohr durchgehend bis auf den Kiefer aufgeschnitten. Dabei klappte die rechte Gesichtshälfte unterhalb des Schnitts auf und fiel durch die Schwerkraft nach unten, so dass der rechte Kieferbereich mit den Zähnen freigelegt wurde und von außen sichtbar war. Für den äußeren Betrachter war das mit Sicherheit kein schöner Anblick, um es noch harmlos auszudrücken.
Wie ich in die Klinik kam und was zwischenzeitlich passiert ist, weiß ich nur aus den Berichten meiner Eltern, möchte mich aber in der Schilderung der Abläufe auf meine eigenen Erinnerungen beschränken.
Fakt ist, dass ich voll verkabelt im OP-Saal wieder zu Bewusstsein kam, da die Ärzte meinen Kreislauf mittlerweile stabilisieren konnten. Ich kann noch mich daran erinnern, wie mein blutdurchtränkter Pullover aufgeschnitten wurde, ein Team von vermummten Gestalten um mich herumlief und irgendwelche Einzelwörter mit Zahlen durch den Raum gerufen wurden.
Danach verliert sich meine Erinnerung wieder bis zum Erwachen auf der Intensivstation nach fünfstündiger Operationszeit. Der verantwortliche Operateur hatte mein zerfetztes Gesicht in dieser Zeit mit über 40 Stichen sowohl im Innen- als auch Außenbereich wieder erfolgreich zusammengenäht. Alle Stiche wurden per Hand millimetergenau im gleichen Abstand voneinander gesetzt. Eine computergesteuerte Nähmaschine hätte nicht exakter arbeiten können. Dadurch wurde ich von weiteren Operationen in plastischer Chirurgie verschont.
Leider existieren von mir kaum Fotos aus dieser Zeit, da ich nach der Aussage meiner Eltern meine Gesichtsnarbe auf keinem Kinderfoto sehen wollte. Aufgrund der schlechten Bildqualität erkennt man die Narbe auf den beiden Fotos nur ansatzweise.
Trotzdem weise ich heute nach fast 50 Jahren noch auf einen Teil der Narbe zur Beantwortung der o. g. Frage hin.
Aufgrund des hohen Gefahrenpotenzials von Spraydosen in Verbindung mit Hitze kann das Entzünden von Druckgasbehältern nach § 308 Strafgesetzbuch als „das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion ” ausgelegt werden:
„Wer anders als durch Freisetzen von Kernenergie, namentlich durch Sprengstoff, eine Explosion herbeiführt und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.”
Im Internet kann man in regelmäßigen Abständen immer wieder ähnliche Unfallberichte mit dem Verlust von Nase, Augen usw. nachlesen. Man muss nicht selbst von einem Hochhaus gesprungen sein, um zu wissen, dass man tot ist, wenn man unten ankommt.
Text und Fotos: Thomas Lauxen