Der Aktionstag
Am 20.09.2018 fand bei uns an der Kaiser-Lothar-Realschule plus Prüm der Aktionstag „Zusammen treffen“ aller Schulen statt, um neben Sport und Spaß auch die Erkrankung Multiple Sklerose in den Blickpunkt zu rücken. Wir vom IGEL waren dabei und berichteten: Zusammen treffen — Aktionstag der Prümer Schulen
Eigentlich haben viele der am Sporttag beteiligten Schülerinnen und Schüler die Idee mitbekommen, diesen Tag zu nutzen, um Multiple Sklerose (im Folgenden mit MS abgekürzt) ein wenig mehr in unser Bewusstsein zu rücken. In der Planung vorweg gab es die Idee, pro getroffenen Basketballkorb Spendenpaten zu aktivieren, um für die DMSG-Ortsgruppe Prüm Geld zu sammeln. Oder aber eine weitere Idee war, viele Rollstühle für diesen Tag zu organisieren, um Schülerinnen und Schülern ein Gefühl zu vermitteln für die Einschränkung, nicht mehr selbst gehen zu können und unsere Schule und deren Umgebung mal aus der Perspektive eines Rollstuhlfahrers zu erkunden.
Diese Ideen blieben jedoch unverwirklicht, der Tag fand „abgespeckt” als Sportaktionstag aller Prümer Schulen statt und bei uns viele Fragen offen. So luden wir Frau Annemie Nickels, seit 20 Jahren die Vorsitzende der DMSG-Ortsgruppe Prüm, ein, um uns ein besseres Bild über MS machen zu können.
Frau Nickels zu Gast beim IGEL
Am 29.10. war es dann soweit, Frau Nickels kam und brachte ihre Freundin Waltraud Hubert mit, die ebenfalls an MS erkrankt ist, jedoch ohne Rollstuhl zurechtkommt. Es gab ein bisschen was zu beachten und am Anfang war unser Respekt groß und ließe sich eher mit Scheu oder Ängstlichkeit beschreiben, denn eine Rollstuhlfahrerin lässt einen schnell umdenken, was die praktischen Dinge des Lebens angeht. Da galt es Frau Nickels abzupassen, denn alleine wäre sie nicht durch unsere Türen gekommen und im Musiksaal, in dem schön die Kaffeetafel eingedeckt war vom IGEL-Team (DANKE an Monia und Sonja für die leckeren Kuchen!) hatten wir doch glatt vergessen, für Frau Nickels einen Platz ohne Stuhl am Tisch einzurichten…
Multiple Sklerose – was ist das?
Frau Nickels und Frau Hubert schossen dann auch direkt los: sie erklärten uns MS als eine Krankheit an den Nervenbahnen, ähnlich einer Entzündung. Die Umhüllung der Nervenbahn wird zerstört. Frau Nickels verglich MS mit einem Marder, der am Autokabel nagt. Die Leitfähigkeit ist gestört.
Die Folgen seien dann vielfältig vom „Kribbeln in den Händen” bis zur kompletten Fehlfunktion der Nerven. Da bleibt der rechte Fuß einfach mal so hängen, so ging es bei Frau Nickels los und irgendwann wollte das zweite Bein auch nicht mehr. Ein Rollator musste her und schließlich der Rollstuhl. Auch ist anormale Müdigkeit oft Teil des Krankheitsbildes, ebenso Blasenstörungen oder Schmerzphasen. Doch MS verändert nicht die Person, den Menschen. „Annemie bleibt Annemie, ob ohne oder mit Rollstuhl.”
Frau Hubert erzählte uns sichtlich bewegt, dass sie MS seit 13 Jahren habe, die Erkrankung aber erst vor vier Jahren als MS erkannt wurde durch ein MRT (Magnetresonanztomographie) im Krankenhaus. Es gibt inzwischen Medikamente und Therapiemöglichkeiten, doch MS ist unheilbar und da man nicht wieder gesund wird mit MS, kann man nur lernen, bestmöglich mit der Krankheit zu leben.
Es gibt zwei Formen von MS, die eine kommt in Schüben und wird klassischerweise mit Cortison behandelt, es gibt aber auch die schleichende Form. Als Therapiemaßnahmen sind Ergotherapie, Krankengymnastik und Lymphdrainage sinnvoll. MS kann das Gehirn schädigen, muss es aber nicht.
Leben mit und trotz MS
Frau Hubert erzählt uns, dass sie mit ihrem Mann und Hund gerne viel unterwegs ist, dabei gerne weitestgehend unabhängig und dass sie sich ein Wohnmobil angeschafft haben, unter anderem, damit sie jederzeit eine Toilette in der Nähe hat.
Frau Nickels macht mit Peter Stritzke, 9b, ein interessantes Gedankenexperiment: sie vergleichen ihre Tagesabläufe, damit wir so besser verstehen lernen, wie ein Tagesablauf einer Person mit MS sich unterscheidet von einem Tagesablauf von uns.
Peter | Frau Nickels |
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6.00 Peters Schwester weckt Peter. | |
6.10 Peter braucht zehn Minuten, um wach zu werden. | |
waschen und anziehen | |
6.40 den Bus erwischen | Zeitumstellung auf Winterzeit. 6.45 Augen nochmal zumachen |
Schuuuuuuuule… | 8.15 Frau Nickels wird von ihrem Mann geweckt, sie hat verschlafen. |
„Katzenwäsche”, in den Rollstuhl setzen, die Füße auf die Rasten setzen, in die Küche schieben, Kaffee aufsetzen | |
8.30 das Rote Kreuz kommt für die Morgentoilette | |
9.45 der Kaffee ist nur noch lauwarm, es gibt kleingeschnittene Brote | |
10.00 der Arbeitsag im Büro beginnt |
Durch das Vertrauen, das Frau Nickels und Frau Hubert uns schenkten, waren auch einige IGEL-Redakteure aus den eigenen Reihen ermutigt, uns Krankheitsgeschichten in ihrer Familie anzuvertrauen. Hinter all den Schicksalen (ein Vater, der nur mit Atmungsgerät leben kann, ein in seiner Entwicklung verzögerter Bruder, der nicht spricht, eine eigene Erkrankung) steckt die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren und dass unser aller Leben nun mal nicht immer glücklich, gesund und strahlend verläuft, sondern Krankheit und Tod auch Aspekte unseres Lebens sind.
Frau Nickels sensibilisierte unter anderem auch für das Problem, in Prüm kaum barrierefrei unterwegs sein zu können. Alleine ihr Weg heute zu uns war zwar möglich, aber nicht gefahrenfrei. Es gibt zu hohe Bordsteine, Treppen zum oberen Gebäudetrakt der Schule und oft auch falsch verstandene Hilfsbereitschaft von zupackenden Mitmenschen, die Frau Nickels“ Rollstuhl schon einmal fast zum Sturz gebracht hätten und mit dem Rollstuhl natürlich auch sie selbst. Auch für einen Rollator ist dies alles nicht möglich. Jetzt in dieser Jahreszeit stellen heruntergefallene Äste oder Zweige und Steine auch schon Hindernisse dar. Frau Nickels setzt sich daher für ein barrierefreies Prüm ein und für mehr öffentliche Toiletten, die auch behindertengerecht zugängig sind. Rollstuhlfahrer haben ein in unserem Grundgesetz verankertes Recht auf Selbständigkeit, doch es gibt noch viel zu tun, bis der Alltag von behinderten Mitmenschen erträglicher wird.
Entwaffnend schön findet Frau Nickels oft, wenn Kinder sie direkt ansprechen, z.B. wie folgt: „He, Alte, haste Bein kaputt?” Doch erwachsenere Menschen wie uns bittet sie, manchmal mehr Vorsicht walten zu lassen mit Aussprüchen wie „Ey, biste behindert oder was!?”, die manchmal schon zur Umgangssprache auf Schulhöfen gehören. Das tut richtig weh, sagt auch Frau Hubert dazu.
Für Frau Nickels war der Rollstuhl im Verlauf ihrer Erkrankung dann wie ein Befreiungsschlag, endlich kam sie wieder mit, hatte den Anschluss. Es braucht aber ein Umfeld, Menschen um Dich herum, die mitmachen, den Rollstuhl schieben, die Behinderung einfach als „normal” erachten.
„Dass ich den Rollstuhl bekam, hatte auch Gutes, ich konnte nicht mehr arbeiten und auch kein Auto selber fahren. Aber ich konnte die MS-Selbsthilfegruppe Prüm gründen, die Pflege meiner Eltern organisieren und vieles mehr.”, so Frau Nickels.
Die Krankheit ist aber auch wie ein Monster, das einem auf der Schulter sitzt, man muss darauf achten, dass man Herr über das Monster bleibt und nicht das Monster einen diktiert. Frau Nickels und Frau Hubert erklären uns, dass sie mit positiver Einstellung leben, auch wenn ihr Alltag oft einem Tanz am Abgrund gleicht. Dieses positive Gefühl spüren wir auch während unserer Gesprächsrunde, die Damen sind gut drauf und wir haben zwischendrin jede Menge Spaß. 😉
Fragen zu DS
Ist MS vererbbar? Diese Frage kam auf. Antwort: Nein, trotzdem kommt es oft vor, dass in einer Familie mehrere Menschen betroffen sind.
Kann man MS aufhalten? Nein, man kann den Verlauf der Krankheit nur verzögern, die Entzündungsherde sollen „ruhig” gehalten werden, aber was zerstört ist, kann auch nicht mehr geheilt werden. Das Monster muss „in Schach gehalten werden.”
Am Ende unserer Runde sind alle IGELaner sichtlich k.o., es war ein intensives Gespräch. Highlight am Ende ist die Vorführung von Frau Nickels“ Rollstuhl. Kommentar von Peter Meier: „voll transformermäßig!”
Das Erklärvideo dürfen wir mit freundlicher Genehmigung der DMSG veröffentlichen
Vielen lieben Dank, Frau Nickels und Frau Hubert!!!
Text: Sonja Esser, 10b
Sehr interessanter Artikel! Daumen hoch!!