Gefangenschaft in Avignon 1918

Wil­ly Ste­cker als 18jähriger „frisch geba­cke­ner” Sol­dat in ein­fa­cher Uniform

Lie­be IGEL-Leser*innen, hier kommt bereits der zwei­te Zeit­zeu­gen­be­richt aus der Fami­lie unse­rer Musik- und DS-Leh­re­rin Frau Ste­cker, dies­mal ist es ein Feld­post­brief ihres Groß­va­ters Wil­ly aus Frank­reich bei Avi­gnon, den sie lei­der nie ken­nen­lern­te, da er ein paar Wochen vor ihrer Geburt 1968 ver­starb. Bei­de Welt­krie­ge aber über­leb­te er zum Glück.

Feld­post Nr. 16743 von Wil­ly Ste­cker
an sei­ne Eltern,
Horn in Lip­pe,
Nord­stra­ße 7,
Frank­reich, den 15. Sep­tem­ber 1918

Lie­be Eltern!
Ich bin gesund und mun­ter, wel­ches ich auch von Euch hof­fe.
In zwei Tagen wird es nun schon ein Jahr, dass ich Sol­dat bin,
wie die Zeit doch so schnell vergeht.

Wer hät­te das vor einem Jahr gedacht, dass ich nun schon in Gefan­gen­schaft bin und dazu noch kei­ne 19 Jah­re alt.
Aber lasst es gut sein, ich hab“ es jetzt hier bei dem Bau­er bes­ser als im Schüt­zen­gra­ben,
brauch“ mich nicht zu ducken,
jeden Moment schlägt eine Gra­na­te ein oder eine Kugel kommt.
Des Nachts habe ich hier mei­ne Ruhe, lege mich ruhig schla­fen, wäh­rend ich sonst auf Horch­pos­ten zog.
Heu­te, Sonn­tag, wo in Deutsch­land wie auch hier nicht gear­bei­tet wird,  habe ich früh zunächst mei­ne Wäsche gewa­schen, aber mit Sei­fe und das gute Kern­sei­fe, wie man sie in Deutsch­land nicht mehr fin­det.
Wir bekom­men jede Woche ein Stück Sei­fe, die­se brau­chen wir nicht alle, könn­te ich Euch die Übri­gen doch schi­cken, dann hät­tet ihr auch gute Sei­fe.
Die­ses geht lei­der nicht. Dann wird geflickt, was geris­sen ist, dann zu Mit­tag tüch­tig geges­sen, wel­ches gut ist, meist Bra­ten.
Des Nach­mit­tags wird nach Hau­se geschrie­ben, des Abends wird wie­der geges­sen und so ver­le­ben wir hier gut den Sonntag. 

Habt Ihr mei­ne Post erhal­ten? Eine Kar­te vom 8. August und eine vom 22. August und am 1. Sep­tem­ber einen Brief, ist die­ses angekommen?

Bei Euch zuhau­se ist doch hof­fent­lich alles gut. Mut­ter wird wohl bei die Kar­tof­feln zu arbei­ten sein. Ist Euer Rüb­sa­men gut gera­ten? Habt Ihr ihn schon schla­gen las­sen? Euer Schwein wird auch wohl hof­fent­lich sich gut machen, dass Ihr im Win­ter was zu essen habt. Braucht mir kei­ne Ess­wa­ren schi­cken. Nur wie ich schon im vori­gen Brief schrieb, ein paar Fuß­so­cken über die Strümp­fe zu zie­hen, so wel­che, wie Mut­tern sie mir schon mal genäht hat. Und auch ein Taschen­tuch. Wei­ter nichts. Aber in ein Zwei-Pfunds-Paket, nicht schwe­rer, sonst dau­ert es zu lange.

Ist Scho­mer noch bei Fel­brich? Nun will ich für den heu­ti­gen Sonn­tag schlie­ßen uns seid herz­lich und viel tau­send Mal gegrüßt. Vie­le Grü­ße an alle Kro­men und Mei­er­jo­hanns. Schreibt auch Grü­ße nach Bern­hard und Alwine.

Eine der vie­len Post­kar­ten aus Avi­gnon, die Wil­ly aus der Gefan­gen­schaft in die Hei­mat schickte

Wenn Wil­ly Ste­cker damals geahnt hät­te, was noch alles pas­sie­ren wür­de. Im Gefäng­nis in Avi­gnon ver­wei­ger­ten die deut­schen Gefan­ge­nen wenig spä­ter für 15 Minu­ten die Arbeit, um auf ihre unmensch­li­chen Haft­be­din­gun­gen auf­merk­sam zu machen. Das durf­te nicht unge­straft blei­ben, jeder sieb­te Gefan­ge­ne muss­te beim nächs­ten Appell vor­tre­ten. Die Anzahl erschien den fran­zö­si­schen Ent­schei­dungs­trä­gern für eine abschre­cken­de Bestra­fung zu hoch, da wur­den ein­fach alle mit Müt­ze (das waren dann nur noch sie­ben) vor das Kriegs­ge­richt gestellt und erhiel­ten vier Jah­re Zucht­haus. Doch das ist eine ande­re Geschich­te, die wir Euch auch dem­nächst hier ein­stel­len werden.

Danie­la Kess­ler, 9b
Fotos: Fami­li­en­al­bum Hel­mut Stecker

4 Antworten auf „Gefangenschaft in Avignon 1918“

  1. In der Frem­de erfährt man, was die Hei­mat wert ist.
    Hei­mat: oft als gefühls­be­ton­ter Aus­druck enger Verbundenheit;
    „das Teu­ers­te, was Men­schen besitzen”.

  2. Wer weiß heu­te noch genau, im Zeit­al­ter vom Emigration
    was die Hei­mat ist?
    Ist Hei­mat der Ort, wo man sei­nen Wohn­sitz hat
    oder jener, an dem man Ver­stan­den wird? Oder ist es viel­leicht gar kein Ort mehr, son­dern nur ein Gefühl?

  3. Wie die Geschich­te in unse­re Gegen­wart hineinwirkt

    Die Beschäf­ti­gung mit dem Schrei­ben von Wil­ly Ste­cker dient zunächst der Selbstreflexion.
    „Ich bin gesund und mun­ter”, schreibt Wil­ly Ste­cker, Zeit­zeu­ge des Ers­ten Welt­krie­ges. Hoff­nun­gen wer­den in die Hei­mat übermittelt.
    Jeder Gruß aus der Front war ein neu­es Lebens­zei­chen und hielt die Hoff­nung auf eine Rückkehr.
    Der Brief ist ein Abbild vom See­len­le­ben eines Sol­da­ten und zeigt, wie die Men­schen von den Rah­men­be­din­gun­gen der Welt berührt wer­den. Das Schrei­ben ist „unbe­fleckt” vom poli­ti­schen Den­ken. Der 18jährige trägt Sor­gen für das Über­le­ben der Fami­lie. Der Krieg trifft jeden.
    Kriegs­all­tag ist hart, Hun­ger und Ent­beh­rung wer­den von Tag zu Tag grö­ßer, beson­ders in Kriegs­win­tern. Er teilt gute fran­zö­si­sche Sei­fe mit denen, die es nicht haben und der Leser spürt ganz deut­lich, dass „der Mensch dem Men­schen ein Hel­fer ist”.

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