Verschleppt und gefangen auf der Krim – Frau Krebs erzählt von ihrem Großvater

Ver­schleppt und gefan­gen auf der Krim

In die­sem Arti­kel möch­te ich Euch mei­nen Groß­va­ter Paul Reusch vor­stel­len, der trotz vie­ler Tief­punk­te und unschö­ner Erfah­run­gen immer wie­der nach vor­ne geblickt hat und unglaub­lich lebens­froh war. Er starb am 01.01. 2015. Sei­ne posi­ti­ve Lebens­ein­stel­lung hat mir selbst durch die ein oder ande­re Kri­se geholfen.

Paul und seine geliebten Pferde
Paul und sei­ne gelieb­ten Pferde

Mein Opa, Paul Reusch, wur­de am 16. April 1922 in Blei­alf gebo­ren. Nach sei­ner Schul­zeit wur­de er zunächst ein­mal Milch­kon­trol­leur. Es zog ihn hin­aus nach Kle­ve, um sein Hand­werk zu ler­nen. Schon nach einem hal­ben Jahr dort durf­te er die gro­ßen und rei­chen Höfe in Trier kontrollieren.

Mit 18 Jah­ren bekam er sei­nen Stel­lungs­be­fehl der Wehr­macht nach Neu­stadt an der Wein­stra­ße. Wer hät­te damals gedacht, dass aus die­sem Befehl eine so lan­ge Zeit in Krieg und Gefan­gen­schaft wur­de. Frag­te man ihn noch in sei­nen letz­ten Lebens­jah­ren danach, so schwieg er lieber.

Paul Reusch (links) und sein Bruder Christian
Paul Reusch (links) und sein Bru­der Christian

Eines Tages hieß es Appell: Antre­ten zur Klei­der­kam­mer! Obwohl alle sei­ne Kame­ra­den mun­kel­ten, es gehe nach Afri­ka, wur­den er und vie­le ande­re Sol­da­ten mit Nasen­schüt­zern und Brust­wär­mern ausgerüstet.

Ohne wei­te­re Anga­ben über das Ziel ging es von dort aus direkt nach Dan­zig, wo Opa am Hafen die ers­ten gro­ßen Schif­fe in sei­nem Leben sah. Doch schon bald nach sei­ner ers­ten See­krank­heit merk­te er, dass die­se gro­ßen „Pöt­te“ auf dem gewal­ti­gen Meer nichts als klei­ne Nuss­scha­len sind.

Paul in der Ausgehuniform
Paul in der Ausgehuniform
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Barents_sea_map_de.png
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Barents_sea_map_de.png

Aus­ge­schifft wur­de er zum ers­ten Mal in Finn­land. Von dort mar­schier­ten die Sol­da­ten wochen­lang mit vol­lem Gepäck die Eis­meer­stra­ße hin­auf. Was die Trup­pen am meis­ten ver­wirr­te: Hier wo sie gelan­det waren, gab es weder Tag noch Nacht. Was sie nicht wuss­ten war, dass die Mit­ter­nachts­son­ne im Juli ein­fach nicht unter­geht. Eines Tages gab der Gene­ral­feld­mar­schall Edu­ard Die­tel end­lich Auf­klä­rung über Ort und Ziel. Hier hör­te er, dass er sich schon über dem Polar­kreis befin­det und zur nörd­li­chen Trup­pe der Ost­front gehör­te, deren Ziel es war, in Mur­mansk den letz­ten eis­frei­en Hafen zu erobern. Weil in die­sem Gebiet Erze für die Her­stel­lung von Kup­fer, Nickel und Molyb­dän abge­baut wur­den, war dies für die deut­sche Kriegs­wirt­schaft von Bedeu­tung. Die Kriegs­ope­ra­ti­on, an der die Trup­pe betei­ligt war, nann­te sich „Unter­neh­men Sil­ber­fuchs“.

Paul als Landser
Paul als Landser

Schon 1943 geriet er dort in Mur­mansk in Gefan­gen­schaft. Eine Dun­kel­zel­le war sein Arrest. Eigent­lich kann ich nicht viel über die­se Zeit berich­ten, da er die­se Jah­re sel­ten bis nie erwähn­te. Doch 48 Jah­re nach die­ser Gefan­gen­schaft tauch­te plötz­lich ein gewis­ser Pilot Schmitt bei uns auf. Bei sei­nem Besuch wur­den vie­le Erin­ne­run­gen aufgefrischt.

Gefechtsstation am Hafen von Kirkenes
Gefechts­sta­ti­on am Hafen von Kirkenes
Gefechtsstation am Hafen von Kirkenes
Gefechts­sta­ti­on am Hafen von Kirkenes

Die­ser Pilot Schmitt und er gehör­ten zu den ers­ten rus­si­schen Gefan­ge­nen über­haupt und wur­den des­halb äußerst genau und gründ­lich ver­hört. Der Pilot Schmitt erhielt als Offi­zier nicht nur eine bes­se­re Ver­pfle­gung als der Ober­ge­frei­te Reusch, son­dern mein Groß­va­ter wur­de auch noch dazu abkom­man­diert, ihm die Schmutz­wä­sche zu waschen. Der Herr Schmitt wan­del­te die­se Unge­rech­tig­keit in der Behand­lung aber in eine gute Sache um, indem er dem klei­nen Gefrei­ten heim­lich Scho­ko­la­de oder ande­re Lebens­mit­tel in der Wäsche ver­steck­te. Ohne je ein Wort aus­tau­schen zu dür­fen, haben die bei­den so eine wort­wört­li­che still­schwei­gen­de Freund­schaft geschlos­sen. 1944 wur­de sie aber getrennt und mein Opa muss­te drei Jah­re in eine Kol­cho­se im Ural zur Zwangsarbeit.

Nach fünf­jäh­ri­ger Gefan­gen­schaft dach­te schon kei­ner mehr dar­an, je wie­der nach­hau­se zu kom­men. Doch plötz­lich hieß es: In die Züge stei­gen, es geht nach Hau­se in den Westen.

Tiefangriff auf Partisanenlager

Tat­säch­lich fuh­ren die Züge bis nach Mos­kau, aber dann merk­te die Gefan­ge­nen am Son­nen­stand, dass etwas nicht stim­men konn­te. Von Mos­kau aus änder­te sich die Rich­tung nach Süd­os­ten. Gelan­det sind sie tat­säch­lich nicht in der Eifel, son­dern in 420 Meter Tie­fe in einem Koh­le­berg­werk am Schwar­zen Meer. In die­sem Lager über­nahm mein Groß­va­ter nicht nur Arbei­ten im Berg­werk, son­dern durf­te durch sei­ne Erfah­rung mit Pfer­den die Lager­auf­se­he­rin mit einer Kut­sche zu ihren Ter­mi­nen fahren.

5000 km vom ers­ten Gefan­gen­la­ger in Mur­mansk ent­fernt soll­te sich jetzt, fünf Jah­re danach, ereig­nen, dass mein Opa wie­der mit sei­nem Freund, dem Offi­zier Schmitt, zusam­men­kam. Doch dies­mal hat­te sich das Schick­sal gewen­det und mein Opa Paul konn­te dem mitt­ler­wei­le schwer lun­gen­kran­ken Schmitt das Leben ret­ten, indem er für ihn in den Stol­len ging. Wenn die bei­den sich spä­ter unter­hiel­ten, hat­ten sie immer ein gro­ßes Pro­blem: Wer hat wem das Leben gerettet?

in russischer Kriegsgefangenschaft
in rus­si­scher Kriegsgefangenschaft

1949 kam Opa Paul als Spät­heim­keh­rer men­schen­scheu und aus­ge­mer­gelt nach Hau­se. Alle Leu­te in der Hei­mat waren für ihn Frem­de. So kam es, dass bei sei­ner Heim­kehr in unse­rem Hof eine ihm unbe­kann­te jun­ge hüb­sche Dame stand. Doch schließ­lich stell­te sich her­aus, dass die­se sei­ne Schwes­ter Katha­ri­na war, die er als klei­nes Mäd­chen mit lan­gen Zöp­fen in Erin­ne­rung hat­te. Dabei fiel ihm auch ein jun­ger Mann mit Bart auf, der den gan­zen Tag und auch abends auf dem Hof blieb. Zudem schien er sich auch sehr gut mit allem, was den Hof betraf, aus­zu­ken­nen. Als die­ser auch am spä­ten Abend noch in der Küche blieb, frag­te Paul sei­nen Vater: „Watt as dat fir a Ker­rel?” So muss­te sein Vater ihn auf­klä­ren, dass es sein Bru­der Lam­bert war, der mitt­ler­wei­le auch zu einem jun­gen Mann her­an­ge­wach­sen war.

In russischer Gefangenschaft
In rus­si­scher Gefangenschaft

In den Jah­ren, die ich mit mei­nem Opas ver­brin­gen durf­te, und das waren immer­hin etwas mehr als 31 Jah­re, hat er noch vie­le ande­re Geschich­ten erzählt. Vor allem um die Zeit um Weih­nach­ten her­um. Regel­mä­ßig pack­te er sei­nen alten Holz­rei­se­kof­fer aus, der Brie­fe aus der Zeit der Gefan­gen­schaft und vie­le ande­re Erin­ne­rungs­stü­cke ent­hielt und erzähl­te Geschich­ten von frü­her. Das haben wir, auch wenn die Geschich­ten nicht immer schön waren, sehr geliebt und genossen.

Text und Bil­der: Chris­ti­na Krebs

11 Antworten auf „Verschleppt und gefangen auf der Krim – Frau Krebs erzählt von ihrem Großvater“

  1. „Ich war nie Sol­dat, immer nur uniformiert.”
    (Brief des deut­schen Sol­da­ten in die Heimat)

    22. Juni 1941. Unter Bruch des Nicht­an­griffs­ver­tra­ges fal­len deut­sche Trup­pen in die Sowjet­uni­on ein. Sta­lin ruft
    „Gro­ßen Vater­län­di­schen Krieg” aus.

    Reichs­kanz­ler hat­te öffent­lich jah­re­lang vom Frie­den geredet:
    „Was könn­te ich anders wün­schen, als Frieden?
    Deutsch­land braucht den Frie­den und er will den Frieden.”
    Krieg war auch eine Reak­ti­on auf den Kom­mu­nis­mus. Sowjet­uni­on war ein kom­mu­nis­tisch regier­ter Staat. Zu ihm
    gehör­ten 15 Län­der: Russ­land, Ukrai­ne, Weiß­russ­land, Moldau,
    Est­land, Lett­land, Litau­en, Kasach­stan, Kir­gi­stan, Tadschikistan,
    Turk­me­ni­stan, Usbe­ki­stan, Arme­ni­en, Aser­bai­dschan, Georgien.

    In der Sowjet­uni­on hat­te nur eine Par­tei das Sagen:
    die Kommunistische.
    „Der Gro­ße Vater­län­di­sche Krieg” war die schwe­re Prüfung
    für das sowje­ti­sche Volk. Natio­nal­so­zia­lis­ten behaupteten,
    dass die­ser Krieg ret­te gan­ze Euro­pa von dem Bolschewismus.
    Bol­sche­wis­ti­sche Frau­en und Män­ner wur­den von vielen
    Deut­schen als „Unter­men­schen” ange­se­hen. Die höchs­te Wert
    war das Sym­bol der Rasse.
    Mil­lio­nen sowje­ti­sche Kriegs­ge­fan­ge­nen überlebten
    die Unter­ernäh­rung und die Seu­chen in den Deut­schen Lagern nicht.
    20 Mil­lio­nen Men­schen ver­lo­ren allein aus der Sowjetunion
    im Krieg ihr Leben.
    Nie mehr wie­der zurück.

  2. Der Blick in die Geschich­te för­dert die Ori­en­tie­rung in unse­re Zeit. Tei­le die­ser Zeit­ge­schich­te gehö­ren zu unse­rer Lebensgeschichte.
    Emo­tio­nal anspre­chend prä­sen­tier­te Chris­ti­na Krebs die Welt der Soldaten.
    In der Gefan­gen­schaft ver­fügt der Mensch nicht mehr über eige­ne Zeit. Der Gefan­ge­ne bekommt ein­heit­li­che Klei­dung und der Sie­ger ver­gisst oft die Anstands­re­geln. So wird man ver­krampft, erstarrt, men­schen­scheu und die Welt erscheint einem fremd.
    Der Bericht war ein wich­ti­ger Bei­trag für den Wert eines Lebens in Frie­den und Freiheit.

  3. Wie­der­auf­bau durch Fremde
    In der Sowjet­uni­on spricht man mit Respekt vom Kön­nen, vom Fleiß und Erfin­dungs­reich­tum deut­scher Kriegsgefangenen.
    Die Gefan­ge­nen haben hart gear­bei­tet in den Berei­chen Bau, Ver­kehr, Holz… In der unend­lich wei­ten Step­pen­land­schaft waren Lebens­ver­hält­nis­se völ­lig ungewohnt.
    Hät­ten wir heu­te die Lebens­auf­fas­sung und Kraft in die­ser unge­wöhn­lich schwe­ren Krise!

  4. In der Fremde

    „Wenn man an einen frem­den Land kommt,
    ist man zuerst etwas verlegen.
    Man weiß nicht recht, wohin man gehen soll.
    … Das ist Nachteil,
    wenn man an einen frem­den Land kommt.” /Bertolt Brecht/

    Auf­grund des begin­nen­den Krie­ges ging Paul Reusch 1940 zur Armee und hat treu für ihr Vater­land gekämpft. Auch auf der ande­ren Sei­te stan­den ehr­lich über­zeug­te Men­schen und sie kämpf­ten für ihre Ideale.
    Der Krieg ist müh­sam und gefähr­lich und ver­langt Ner­ven­kraft. Seit Wochen, seit Mona­ten haben die Sol­da­ten das Schla­fen verlernt.
    An die­ses Kli­ma sind die Sol­da­ten nicht gewohnt. Schnee­stür­me im Win­ter erschwe­ren oft die Sicht. Der Sol­dat soll leben und kämp­fen, Käl­te unter 40° und Sturm widerstehen.

    „Posi­ti­ve Lebens­ein­stel­lung war aus­schlag­ge­bend”, sag­te Chris­ti­na Krebs, die Geschichts­leh­re­rin Real­schu­le plus Prüm.

    1. Dan­ke, für die tol­len Kom­men­ta­re und Bei­trä­ge. Ja, eine posi­ti­ve Lebens­ein­stel­lung hilft in vie­len Situationen.

  5. Exil tie­fen im Her­zen Russlands

    Sol­da­ten leb­ten rela­tiv eng zuein­an­der. Wohin es wei­ter­ging, wuss­ten sie nicht. Sol­da­ten hoff­ten, dass sie bald wie­der fried­li­che Zivi­lis­ten werden.
    Dafür sind schö­ne Bei­spie­le in der Lite­ra­tur verzeichnet.

    „Wir san­gen und war­te­ten auf eine Gele­gen­heit, über die Mau­er zu gehen… Zur Stra­fe muss­ten wir die gro­ßen, hei­ßen Kaf­fee­kan­nen schlep­pen und Bro­te abla­den. Dabei stand in einem wun­der­ba­ren Pelz­man­tel, der für Front bestimmt war, ein Zahl­meis­ter und zähl­te, damit kein Brot platt­ge­schla­gen wurde.
    Wir woll­ten nicht ster­ben, wir woll­ten auch nicht auf die Krim, aber wir woll­ten auch nicht in die­ser schmut­zi­gen Kaser­ne hocken, wo sie immer­zu Bro­te ablu­den, die für die Front bestimmt waren… und die Zahl­meis­ter in den schö­nen Män­teln her­um­lie­fen, wäh­rend es uns schreck­lich kalt war.”
    / Hein­rich Böll, Damals in Odes­sa, 1950/

  6. Paul Reusch (1922 – 2015), Augen­zeu­ge, der den Krieg ertra­gen musste
    Wie­der­um spricht IGEL die Leser direkt an und bezieht sie in das Gesche­hen ein.
    Ein hei­te­res Gesicht des Man­nes lässt sich mit einem Blick erken­nen, dass er weder Herr­scher noch Erobe­rer der Welt sein möch­te. Krieg hat ihn heim­ge­sucht und Wehr­dienst war jeder­manns Pflicht.
    Auch das Leid, das heu­te über uns gekom­men ist, ist vergänglich.

  7. Ich kann mich Ihnen nur anschlie­ßen. Wahr und grau­sam. Aber der Opa war ein sehr gut gelaun­ter Lebe­mensch trotz allem was er erle­ben musste.

  8. Dem Kom­men­tar von Frau Hell­rie­gel kann ich mich nur anschlie­ßen: Dan­ke Frau Krebs, dass Sie Bege­ben­hei­ten wie die­se mit­hel­fen zu bewah­ren, weil sie zei­gen wie es wirk­lich war: Grau­sam, bedrü­ckend, unvor­stell­bar lebens­feind­lich und doch auch hier: Freund­schaft und Hoff­nung die die­se dunk­le Zeit erhel­len. Chapeau!

  9. Ich hof­fe, dass vie­le Schü­ler die­se bewe­gen­de wah­re Geschich­te lesen.Ein Dan­ke­schön an chris­ti­na Krebs für die­sen beein­dru­cken­den Arti­kel über ihren Großvater .

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